Schöner Radfahren

Meine gute Freundin Julia ist ein richtiger Sportmuffel. Lade ich sie zu einer Radtour ein, winkt sie stets dankend ab, lädt mich dafür aber regelmäßig zu einem „Kaffee danach“ ein. Natürlich nicht ohne ihre berühmten Gute-Morgen-Küchlein, da sie zwar Sportmuffel, dafür aber eine begnadete Bäckerin ist. Meine schönen Vorsätze, durch meinen Sport auch Kalorien zu verbrennen, werden dadurch auf nahezu perfide Weise durchkreuzt. Ich liebe diese Einladungen sehr.

Vor zwei Wochen ist dann etwas passiert, das mich ratlos machte. Inzwischen lade ich Julia nicht mehr zu solchen schweißtreibenden Veranstaltungen ein, weil ich sie gern dabei hätte. Nein, ich weiß ja, dass sie damit nicht zu locken ist. Wenn ich sie einlade, dann nur, um ihr zeigen zu können, dass ich natürlich megasportlich bin. So richtig in Bewunderung verfällt sie dann zwar immer noch nicht, aber wir haben immerhin ein Gesprächsthema, in dem ich mich auch wirklich auskenne. Wie gesagt, vor zwei Wochen geschah etwas Unerwartetes. Julia fragte mich, ob wir nicht mal wieder eine Radtour machen könnten.

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Ich stutzte. Mal wieder? Trotz meines fortgeschrittenen Alters funktioniert mein Gedächtnis noch einigermaßen, so dass ich schnell rekapitulieren konnte, dass wir genau eine Radtour zusammen unternommen hatten. Und die ging zu einer Milchbar, die von ihrer Wohnung keinen Kilometer entfernt lag. Also „mal wieder“ eine Radtour. Ich schaute sie lange an. Drogen schien sie mir nicht zu nehmen. Woher also dieses verdächtige Interesse am Sport?
Da ich dies sicher nicht herausfinden würde, wenn ich ihre Einladung ausschlüge, sagte ich zögernd zu. Das konnte doch nur schief gehen, dachte ich im Geheimen.
Schon am folgenden Samstag sollte es losgehen. Julia wartete schon auf mich. Ein besseres Fahrrad hatte sich trotz ihres neuen Faibles nicht in ihren Besitz verirrt, also blieb ich verhalten. „Wie weit möchtest du denn heute fahren?“ fragte ich sie vorsichtig. „Ach, einfach der Nase nach, ein paar Stunden gehen auf dem Rad ja soo schnell vorbei“, antwortete sie. Meine Anspannung nahm nicht wirklich ab. Ich zwang mich zu einem Lächeln: „Gut, dann fahren wir mal meine kurze Trainingsrunde, da kommen wir auch an einem Badesee vorbei und können eine Pause machen.“ Sie sah mich an, als hätte ich ihr erzählt, dass man dort immer noch Hexen verbrennen würde. Hatte ich aber nicht, von Hexen war mir in dieser Beziehung nichts – und erst recht nicht in dieser Gegend – bekannt.
Ich sagte lieber nichts mehr und schwang mich auf meinen alten Stahlrenner, den ich zu solchen Gelegenheiten noch gern ausführte. Die erste Zeit fuhren wir in moderatem Tempo nebeneinander her, Julia fröhlich plappernd, ich voller düsterer Vorahnungen. Die ersten 10 Kilometer vergingen so recht schnell. Bald darauf fiel Julia zurück, ohne dass ich das Tempo erhöht hatte. „Jetzt geht es los“ dachte ich noch, drehte mich nach ihr um und sah in ein komplett zufriedenes Gesicht. Da mir nichts gescheites einfiel stellte ich mit „Alles ok?“ die wohl dümmste Frage, die man in diesem Moment stellen konnte.
Julia lachte, nickte und fuhr an mir vorbei.
So ging es einige Zeit. Auf einem sonnigen und recht flachen Stück wurde Julia dann noch langsamer. Ich ließ mich zurückfallen und musste feststellen, dass ihre Augenlider halb geschlossen waren. Sie fuhr, ließ aber immer wieder ein, zwei Tritte aus. Da sie inzwischen fast zum Stehen gekommen war, schob ich sie ein wenig an, was sie dadurch honorierte, dass sie das Treten gänzlich einstellte. Eine knappe Minute später war der Spuk vorbei: Julia öffnete die Augen, lächelte in meine Richtung und fuhr weiter.
Diese Vorstellung wiederholte sich noch zwei mal, bis wir nach gut 30 km fast unser Etappenziel erreicht hatten und anhielten, um die letzten Sonnenstrahlen einzufangen. Sonderlich intelligent kann mein Gesichtsausdruck nicht gewesen sein – Julia sah mich an und lachte aus vollem Herzen los. Na prima, wenigstens hatte sie jetzt gute Laune. Ich war inzwischen recht genervt, weil ich überhaupt nicht wusste, was hier los war. „Was soll das Ganze?“ fuhr ich sie ungehalten an. „Woher kommt dein plötzliches Interesse an Radtouren und weshalb fällst du dennoch immer wieder beinahe vom Rad?“
Ihr Lachen ging in ein Kichern über, sie nahm meine Hand und zog mich zu ihrem Rad. „Hier, schau mal“, sagte sie zu mir und legte meine Hand auf ihren altmodischen Sattel. Ich wollte eben erwidern, dass ich nicht wüsste, wie man mit der Hand schauen könne, da griff sie in ihre Satteltasche, woraufhin der Sattel zu vibrieren begann. Vor Schreck zog ich die Hand weg. Sie lachte wieder und führte sie erneut an den Sattel, der wohlig vor sich hin brummte. „Ein Sattelüberzug! Hat mir meine Freundin Sabine mitgebracht“, erklärte sie mir. „Sie meinte, dann hätte ich endlich Spaß am Radfahren und könnte auch mit dem Spinner – sie meinte dich – mitfahren“.
„Du hast …?“ stammelte ich. „Ist doch nichts dabei, niemand sieht es und das Fahren macht wirklich Spaß damit!“ beantwortete sie meine unvollendete Frage. Da musste ich ihr immerhin recht geben. Den Rückweg jedenfalls hatte ich dann mit ganz anderen Augen wahrgenommen.

Nachtrag: Ob vor diesem Sattelüberzug aus Gründen der Verkehrssicherheit gewarnt oder für ihn wegen seiner im Sinne des Radsports motivierenden Wirkung geworben werden sollte, lasse ich an dieser Stelle einmal offen. Neugierige erhalten ihn im einschlägigen Fachhandel.