Der Begriff Entschleunigung ist in aller Munde.
Will man sein Kind morgens rechtzeitig zur Schule schicken heißt es nicht mehr genervt: „Ja Papa, ich mach ja schon!“ sondern: „Mensch, Entschleunigung ist angesagt. Keep cool!“. Wo man auch hinblickt: Entschleunigung. Bestes Beispiel ist die Berliner S-Bahn. Diese wurde so perfekt entschleunigt, dass einige Strecken gar nicht mehr bedient werden.
Neu ist dieses Phänomen nicht. Schon im vorletzten Jahrhundert sollen Mediziner vor der Fahrt mit der damals brandneuen Eisenbahn gewarnt haben. Schwindel und Irrsinn seien von den Warnenden postuliert worden. Leider ist es nicht unwahrscheinlich, dass das Gutachten des „Königlich Bayrischen Medizinalkollegiums“ über die Gesundheitsrisiken der Eisenbahn, das die Quelle der Warnungen gewesen sein soll, nie existiert hat. Weil es aber schade wäre, wenn es dies nicht gegeben haben sollte, wurde es kurzerhand erfunden und fleißig zitiert oder erwähnt. So auch von mir.
Zurück zum Thema. Aus dem Radfahrerparadies Dänemark rollt zur Zeit eine neue Bewegung auf uns zu. Sten Nadolny hat deren Idee mit dem Buch „Die Entdeckung der Langsamkeit“ bereits vor einiger Zeit populär gemacht. Spätestens seit dessen Veröffentlichung fühle ich mich bei jedem Ampelstopp mit dem Rad wie ein Inuit nach dem Töten eines Wals: schuldig. So schuldig, dass ich dem Gott der Eile etwas opfern würde, hätte ich genügend Zeit.
Zeit ist jedoch gerade das Problem unserer Tage. Wir haben sie ganz einfach nicht. Zeit ist etwas, das fehlt, rennt oder davonläuft. Da wir keine Zeit haben, müssen wir ihr also selber ständig hinterherrennen. Langsam geht dies selbstverständlich nicht vonstatten. Wir eilen, hasten, rennen oder fahren wie die „Besengten“ durch unsere Straßen. Da das Keine-Zeit-haben zum Selbstzweck geworden ist huldigen wir dieser heiligen Kuh auch in unserer Freizeit. Entweder fahren wir zu jeder Verabredung mit dem schnellsten verfügbaren Verkehrsmittel (Das Rennrad? Das Fixie?) um die fehlende Zeit einzuholen oder wir gehen irgendwo an den Start um selbiges bei einer Tätigkeit, die wir „Sport“ nennen, zu versuchen. Besonders phantasie- und sinnvoll sind dabei Sportveranstaltungen wie das Indoor-Cycling oder Spinning. Nicht nur, dass wir die Zeit auch hier nicht einholen werden, nein, wir kommen dabei nicht einmal voran!
Es liegt jetzt in der Natur der Sache, dass wir wegen des ständigen Zeit-Einholens nicht mehr dazu kommen, zu entspannen und Montagmorgen auf der Arbeit von dem wohlbekannten Gefühl des Gehetzseins begleitet mit dem Rad ankommen. Ein Gefühl, das wir das ganze Wochenende mit uns herumtrugen. Montagabend sind wir dann bereits wieder reif für das Wochenende.
Wer genau aufgepasst hat merkt, dass sich hier ein Kreis schließt, dass wir eine Art „self-fulfilling prophecy“ vor uns haben: der Glaube, keine Zeit zu haben, führt genau zu diesem Zustand.
Habe ich gerade den Unsinn unseres Lebens in wenigen Worten dargelegt, möchte ich nun doch noch eine Lanze für Diejenigen brechen, die wie ich der Entdeckung der Langsamkeit nichts abgewinnen können. Wir Menschen – speziell wir Männer – sind Jäger (und Sammler, was ich jetzt mal ignoriere). Beim Jagen ging und geht es um Schnelligkeit. Der Seehund, der Pottwal, das Mammut und die Forelle waren nie besonders erfreut darüber, als Zwischenmahlzeit eines Homo Neanderthalensis, Homo Erectus oder eines sonstigen Vertreters unserer Vorfahrengeschlechter zu enden. Jagd verlangte also nach Schnelligkeit. Da sie jedoch armselige Jäger, dafür aber passable Opfer darstellten, mussten unsere Vorfahren auch als Gejagte eins sein: schnell.
Dieses Gejagdsein haben wir uns über die Jahrmillionen erhalten. Erst waren es Säbelzahntiger, Bären oder hungrige Wolfsrudel, die uns nach dem Leben trachteten. Als wir gelernt hatten, wie man diese Gegner ausrotten konnte, suchten wir uns neue Jäger: Krieg und Verfolgung feierten ihre ersten Geburtstage und der frühmittelalterliche Mensch konnte die schöne Tradition des Wegrennens weiterhin pflegen. Dann hatten wir auch dies hinter uns gebracht: uns wurde langweilig. Genetisch bedingt quasi. Also erfanden wir erneut etwas, vor dem man davonlaufen – Entschuldigung: davonfahren konnte: den Straßenverkehr. Mit einem demokratischen „Alle gegen Alle“ hat der moderne Mensch nun wieder die Möglichkeit, seiner Natur gerecht zu werden und alles zu tun, um wegrennen oder -fahren zu können. Alles, nur nicht langsam. Weil das, wie oben dargelegt, rein evolutionsbiologisch nicht möglich ist. Die Erfindung der Langsamkeit, die als Bewegung oder Mode selbstverständlich einen Namen benötigt: „Slow Cycle Movement“ unter Radfahrern, Entschleunigung unter Experten, ist somit eine Sackgasse. Wir Menschen wollen, dürfen, müssen schnell sein. Wohlfühlen können wir uns schließlich nur, wenn wir uns selbst treu bleiben. Auch um den Preis des Unwohlseins. Risiken und Nebenwirkungen gibt es schließlich immer.
Sagt Ihr Risikoexperte
BikeBlogger.de
Der Artikel ist im Original im Mitgliedermagazin des ADFC Berlin, radzeit Ausgabe 6/2011 in der Rubrik Feuilleton erschienen. Vielen Dank an OL für die Erlaubnis, seinen herrlich passenden Cartoon veröffentlichen zu dürfen!
Ich glaube es ist egal wo man wohnt ob Stadt, Dorf oder Großstadt – Fahrrad fahren ist in und nun haben alle die verschiedensten Meinungen. Schön ist jedoch das immer mehr Autofahrer zu aktiven Raddfahren werden
Entschleunigung gut und schön, aber wenn die Autofahrer nicht mitmachen kann’s halt auch echt gefählich werden. Nicht nur in Berlin, sondern auch in Kleinstädten wie der, in der ich wohne…
Pingback: 3 Fahrrad-Blogs, die ich dir am liebsten nicht verraten hätte
in den außenbezirken kann man meist ganz gut im autoverkehr mitschwimmen. wenn man ein wenig erzieherisch tätig wird (meist bleibt einem ja keine wahl 😉 ) schaffen die dosentreiber dann sogar die grüne welle ^^
Das mit der Entschleunigung ist ja in Berlin eher eine Frage der verstopften Straßen. Aber hast Recht: Der Comic ist echt cool! Aber mit dem Bike ist man in Berlin immer noch am schnellsten, zumindest im Zentrum der Stadt!
Viele Grüße aus Friedelhain!
mhh wenn ich den fahrtwind nicht durch die Kleidung spüre, fühle ich mich unwohl. wenn andere meinen herumbummeln zu müssen – gut lass sie machen, aber man muss doch nicht jeden Wahnsinn mitmachen 😉